Sexikon Sexperimente

Wie HIV mein Sexleben verbessert hat – Teil 1

VON GAST

Ok. Versteht mich nicht falsch, HIV ist Scheiße. Ich hätte es lieber nicht. Wäre lieber geheilt. Oder gar nicht erst angesteckt worden.

Aber heute belastet es mich nicht mehr. Meine Viruslast ist unter der Nachweisgrenze, ich kann Kinder kriegen ohne jemanden anzustecken. Ich habe viel schönen Sex und im Großen und Ganzen geht’s mir super. Mein Immunsystem ist gut geölt und ich fühle mich eher übermenschlich.

An diesen Punkt bin ich allerdings erst nach Jahren der therapeutischen Konfrontationen gelangt. HIV hat mir ein paare Jahre meines Lebens gestohlen. Ich war in Depressionen versunken. Im Zweifel, in Unsicherheiten – ich war ein kleines Häufchen Elend. Und suhlte mich erbärmlich im Selbstmitleid.

Natürlich ist die Zukunft ungewiss. Wer weiß, was die Forschung bringt? Langfristige Komplikationen sind nicht auszuschließen. Eine Heilung eher unwahrscheinlich. Frauen kennenzulernen ist immer wieder eine Herausforderung (aber das ist eine andere Geschichte). Also nochmal zur Klarstellung: HIV ist Scheiße. Holt es euch nicht. Benutzt Kondome, lasst euch testen. Und passt auf euch auf.

Dennoch hat HIV hat mir auch etwas Interessantes gegeben und mein Sexleben ironischerweise unglaublich verbessert. Davon möchte ich euch hier erzählen.

Ich habe Sexualität stets als eine meiner größten Freuden gesehen. Als Lebenselixier, das mir Zuversicht und Genuss gegeben hat. Der Spaß, das Lachen, das Kichern und das lustvolle Spiel, das mit Sex einhergeht. Die Offenheit und insbesondere die Freiheit, die eine bewusste Sexualität mit sich bringt – all das habe ich genossen.

Ja, ich war ein „Womanizer“. Ein Künstler, der mit Poesie die Frauen verzauberte – sich niemals binden wollend. Immer umtriebig – aber nie unehrlich. Ich sagte von vornherein immer klar, dass ich keine Beziehung wollte. Diese Ehrlichkeit wurde von Frauen auch belohnt – und ich konnte meiner Faszination zu Frauen in all ihren schönen Formen und Farben frönen.

Es waren glückliche, verschwitzte und freche Zeiten. Mit vielen erotischen Verstrickungen. Und ich gestehe – ich war nie der„Blowjob-Typ”. Ich bevorzugte es, stets die zungenbrecherische Oral- Akrobatik selbst durchzuführen. Schlürfend und schmatzend.

Bis das Virus kam. Bis sich HIV in jeden einzelnen Aspekt meines Lebens eingeschlichen hatte und mein körperliches und emotionales Leben mit seinem Gift ansteckte. Wie ein Orkan, der kein Ende nehmen wollte, verwüstete das Virus mein Leben. Schutzlos verabschiedete ich mich von dem, was ich kannte, von meinen Vorstellungen, wie mein Leben auszusehen hatte. Von Frauen. Und meiner sexuellen Identität.

Und dann fing die Reise an.

TEIL I: Die unerträgliche Einsamkeit des Seins 

In den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach meiner Diagnose war ich giftig. Ich fühlte mich von einem fremden Organismus infiltriert, der mein Blut und mein Sperma zu einer ätzenden Flüssigkeit gemacht hatte. So sehr ich versuchte, mein Leben wieder auf Spur zu bringen, so hilflos war ich dem düsteren Schatten meines Schocks ausgeliefert. Er verschlang jede Aussicht und jede Orientierung. Dunkelheit umhüllte mich.

Im eisigen Wiener Winter Grau wurde meine Furcht vor Intimität immer grösser. Ich hatte meine Therapie bereits angefangen.

Laut Medizin war ich sicher.


Laut Medizin konnte ich niemanden anstecken. 

Laut Medizin war ich unter der Nachweisgrenze. 

Laut Medizin war ich sauber.


Laut mir – war ich toxisch. 

Was ich immer als Freude empfunden hatte – das nächtliche Treiben in Lokalen, den Genuss von Wein, das flirtende Hin und Her der Blicke – wurde zu einem Mythos aus längst vergangenen Zeiten. Zu einer geflüsterten Erinnerung.

Ich stand plötzlich alleine da. In Galerien, in Bars und Klubs. Hinter einer Festungsmauer aus Verunsicherung. Angespannte Blicke, angespannte Muskeln und angespannte Gedanken dominierten meine Körpersprache. Steif. Ängstlich. Ein Wunsch danach, unsichtbar zu sein.

Ich konnte das Geschehen nur noch aus der Ferne beobachten. Schüchtern und melancholisch trauerte ich diesen wunderschönen Wesen nach – ihrer eleganten Bewegungen, ihrer Anmut, ihren Gerüchen und Intimitäten. Sie waren so nah – jedoch so unglaublich weit weg. Es wäre so einfach gewesen, hinzugehen. So einfach, etwas zu sagen, zu lächeln, einen schlechten Scherz zu bringen – aber ich war gelähmt. Die Schockstarre war unüberwindbar. Wieder würde ich, den Kopf gesenkt, in der kalten Einsamkeit nach Hause gehen. In schmerzender Sehnsucht nach meinem früheren Leben.

Meine emotionalen Narben waren zu offen. Zu sichtbar. Eine einfache Konversation würde gleich eine einfache Konfrontation werden. Überfallartig fluteten Gedanken meinen Kopf – Was könnte ich ihr sagen? Was kann ich erzählen? Dass ich giftig bin? Infiziert? Dreckig? Dass mein Penis ein giftiger Stachel ist? Dass ich ihr wehtun kann?

Ich starrte einfach. Ins endlose Nichts. Ein Wunsch-Gespräch immer vor Augen – sag dies, sag jenes, sag was Oberflächliches…während die Panik sich immer wieder in rauschenden Wellen meldete: „KANN SIE DAS VIRUS SEHEN?! KANN SIE SEHEN, DASS ICH ETWAS VERHEIMLICHE?! KANN SIE MEIN GIFT SEHEN?!… Ich schwieg. Ich kroch. Ich verschwand.

Als sich Situationen ergaben, in denen ich plötzlich über mich erzählen musste, wurde mein Mund ganz trocken und voll von Ausreden, um zu fliehen. Ich erfand Geschichten, um über alles zu reden, außer von mir. Der Gedanke an Intimität machte mir Angst.

Das virale Massaker in meinem Leben wollte ich erklären, nur konnte ich es nicht in Worte fassen.

Sobald sich jemand die Mühe machte, meinen Schutzschild zu penetrieren, um auch nur die kleinsten persönlichen Details zu ergattern, schaffte ich es, in Panik zu verfallen. „Wer würde mich haben wollen? Bin ich wirklich ‘sicher’? Kann ich der Medizin trauen?“ Meine Entscheidungen waren mir suspekt. Schließlich hatten meine Entscheidungen mir HIV eingefangen – wie gut konnten die schon sein?

Ja, es war viel Pech dabei an diesem Wochenende in Madrid. Sie wusste nichts von dem Virus, der sich vor wenigen Wochen in ihr breitgemacht hatte. Beim Penetrieren benutzten wir sogar Kondome. Aber Sex besteht aus mehr als nur dem rein und raus – und da sie starke Regelblutung hatte, war ihr Blut überall. Hochinfektiös. Auf meinem Penis, im Mund. Und so führte eine romantische Affäre zu meiner Infektion.

Die Angst hatte mich fest im Griff. Meine Scham und mein Selbsthass dominierten mein Handeln. Somit lief ich heim, um wenigstens, still und heimlich, meinen rechten Arm zu trainieren. Träumend. Sehnsüchtig. Von den Tagen, in denen das Kennenlernen, das Intime, das Befriedigen, so einfach gewesen war. So verspielt und schön und lebendig. Ich zog mich zurück.

Das war nicht mehr die Angst vor Bindung oder die Angst vor einer intimen Beziehung. Plötzlich assoziierte ich Sex und Intimität mit Panik. Mit Gefahr. Mit Gift. 

Ich hatte Angst vor Sex.

Titelbild: © CHRISTOPHER KLETTERMAYER

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Über den Autor


Philipp Spiegel ist Autor, Fotograf und Künstler mit Sitz in Barcelona und Wien. Bis zu seiner HIV Diagnose arbeitete er als Fotojournalist und Modefotograf – danach fing er an sich dem Virus, Sexualität und der gesellschaftlichen Stigmatisierung zu widmen.

Seine Arbeiten befassen sich mit HIV sowie den Konsequenzen – Sei es im Dating, bei Einreisebeschränkungen oder bei gesellschaftlichen Vorurteilen. Neben HIV arbeitet Philipp Spiegel an Projekten über Sexualität, Sexuelle-Freiheiten und Diskriminierung. Seine Arbeiten wurden bereits in Deutschland, Großbritannien, Argentinien, USA, Spanien und Österreich veröffentlicht. Außerdem berät und unterstützt er zahlreiche NGOs und Hilfsorganisationen in Deutschland und Österreich.

Philipp Spiegel ist ein offenes Pseudonym – es erlaubt einen direkteren Zugang und schützt vor Diskriminierung, die leider immer noch weit verbreitet ist. 

Für Fragen, Anfragen und Kommentare nimmt er sich immer gerne Zeit!


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